Santa Barbara

Haben im Wagen geschlafen, direkt vorm Rathaus. Die Sonne brennt um 8 AM schon auf die hummerroten Schienbeine, Knie und Füße. Im Halbschlaf merke ich, wie wir weiter fahren; ein wenig von der Hauptschlagader State Street weg, weiter den Strand und die Palmenallee Richtung Osten zur Corona del Mar. Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit bezüglich der Route. Martin wollte in der Nacht noch an der Küste bis Santa Barbara entlangfahren. Ich wollte den schnelleren Weg, abkürzen durchs Innland. Konsequenz: wir brauchten länger für die dunkle Strandstrecke, gesehen haben wir kaum etwas, vorbeiziehende Straßenlampen, Autos, Motels. Markierung um Markierung kurvt der Doge durch die graue Landschaft. Die Route 1 in der Nacht kann von Santa Cruz bis Santa Barbara nicht viel. Da sollte man besser die 101 nehmen, ein schneller Nachttunnel von einer Strandstadt zur nächsten. Aber erst die Erfahrung macht Klug.
Die Hotels hatten kaum noch Zimmer frei, rote „No Vacancy“ Neonröhren leuchten uns hämisch entgegen. Das versteckte Neon-„Sorry“ bringt Martin vollends auf die Palme, nur metaphorisch. Wir halten am West Cabrillo Boulevard, Ecke State Street. Ein letzter verzweifelter Versuch von beiden, bei der Motelsuche noch einmal konstruktiv zu sein, scheitert. Ich steige mit einem „Fick dich“ aus dem Wagen aus, knalle die Tür ins Schloss, der Doge heult auf und prescht davon.
Bange Minuten werden zu freien Gedanken. Ich hatte nicht einmal ein Cell Phone dabei. Nur noch meinen Geldbeutel mit Kreditkarte und ein paar Bucks. „Nicht der schlechteste Ort um zu stranden“ geht mir durch den Kopf. Zuvor muss das Stresslevel erst durch sehr viele American Spirit Kippen hinuntergeschlungen werden. Aber dann geht es mir auf. Auch wenn er mich nicht abholt, bin ich hier nicht gestrandet. Die Möglichkeiten werden mehr. Ich bin nicht mit ihm gefangen. Ich kann jederzeit aussteigen. Nachdem zahllose Pickups, Doges, Chrysler und ein paar Schweizer vorbeischlichen, biegt Martin ohne um die Ecke und setzt sich nach Aufforderung neben mich. Wir reden viel, gehen zum Strand, reden noch mehr, gehen zum Pier und reden weiter. An der Spitze der Stearns Wharf Sitze ich auf einem kahlen Baumstamm von unten bellen Seehunde hoch. Sie sind die einzigen Zuhörer unseres Streits. Ich belle ihnen kurz zurück, sie haben mich scheinbar nicht verstanden. Aber dort hat sich der Streit schon in ein gegenseitiges zuhören und abgrenzen verwandelt. Beinahe zwei Wochen mit ein und der selben Person sehr nahe sein und viel Zeit verbringen ist schwer, wenn man es nicht durch gelegentlichen Sex wieder erträglich machen kann. Alles Gesagt ist nie, aber diese Nacht war die wichtigste auf der Reise. Nach Regen folgt Sonnenschein und umgekehrt. Nicht alle Themen können ausdiskutiert werden und man hat sie dann vor sich, klar getrennt und sauber verpackt in kleine handliche Stückchen, möglichst Mundgerecht. Immer wieder wird an einem Ast ein Zweig weggeschnitten, an einem anderen Zweig entsteht eine neue Blüte, ein anderer Ast wird morsch und verrottet. Kennen lernen ist wie zusammen einen Baum groß ziehen. Man muss ihn pflegen, gießen beschneiden, wenn man die Früchte genießen will.
Aber jetzt wieder Motel 6, neben Super 8 für unsere Roadtripzwecke die beste Wahl. Eine Spastikerin im Badeanzug und T-shirt plantscht im umzäunten Pool, ich sitze unter einem Sonnenschirm und schreibe. Sie ist hübsch anzusehen, wenn einen die Gesichtskrämpfe nicht abschrecken. Auch gehen ist nicht leicht für sie. Aber ihr leicht tätowierter Freund oder Mann nimmt sie wie sie ist. Ihr dunkelhaariges Mädchen – es scheint adoptiert zu sein, denn die Hautfarbe der Eltern ist sehr weiß und die des Kindes kaffeebraun – ergänzt das Ensemble zur Perfektion. Eine Behinderte mit einem Tätowierten und einem dunkelhäutigem Kind. Wow denk ich mir: gelebte, gar nicht mehr bewusste Toleranz. Und so sehe ich es in den meisten Ecken in denen wir halten. Freunde, die einen anderen Freund mit dem Rollstuhl schieben. Wenn einer Einparken will und sich dumm anstellt, weist man ihn ein. Hilfsbereite Passanten, überall.

2 Gedanken zu „Santa Barbara

  1. Toller Bericht, sehr interessant! Also gehts bei euch doch ziemlich ab, Respekt! Aber ihr scheint es gut zu packen! Tja, die Abgrenzung… Warum muss es so schwer sein, sich abzugrenzen? Warum lernen wir das so mühsam?

    Lg
    Anna

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